Dienstag, der 24. Oktober 2017 – 3. Reisetag
Brest, Hotel „Intourist“, Zimmer 807
Mein Wecker klingelte 05:45 Uhr. Ausgeschlafen? Naja, eher aufgehört! Nachdem ich das Bad belegt hatte, blieb für Sonja gerade mal eine halbe Stunde bis zum Frühstück um 07:00 Uhr, das wir diesmal in einem separaten Raum im 2. Stock einnahmen.
Wie am Vortag konnten wir zwischen 2 Brotsorten wählen. Als Belag standen, neben Butter, 2 Scheiben Salami, 2 kleine Streifen und eine Scheibe Schnittkäse zur Verfügung. Ergänzt wurde das Ganze durch eine große Portion Rührei in Kuchenstückform und einen Joghurt. Kaffee oder Tee war in Selbstbedienung zu bekommen.
Anschließend war Kofferverladung und um 08:00 Uhr ging es mit unserem Bus weiter Richtung Minsk.
Der s.g. „kleine“ Sergej hatte zum Glück für uns alle an die Pässe gedacht und sie sich an der Rezeption aushändigen lassen.
Eine Stunde lang informierte er uns dann mit seinen interessanten Ausführungen über das Leben bzw. Teilbereiche dessen in Weißrussland (Belarus). Hier einen begrenzten Einblick, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt:
– Früher benötigte die Bahn in Brest für den Räder- bzw. Spurwechsel 2,5 Stunden. Jetzt dauert das nur noch 40 Minuten.
– Entlang unserer befahrenen Straße sind links in Brest die alten Häuser und rechts die neuen Bauten zu sehen. In den ländlichen Bereichen / Außenbezirken wohnen links die katholischen und rechts die orthodoxen Bevölkerungsschichten.
– Belarus gliedert sich in 6 Verwaltungsbezirke, sprich Gebiete: Minsk, Gomel, Mogilew, Witebsk, Grodna und Brest. Diese wiederum bestehen aus ca. 80 Rayons. Von den insgesamt in Belarus lebenden 10 Mio. Einwohnern verteilen sich etwa 5 Mio. auf die 6 großen Gebietsstädte, 2 Mio. davon leben allein in der Hauptstadt Minsk.
– Per Straße sind es z.B. von Brest nach Moskau 1.075 km.
– Während früher 25 % der Bevölkerung in den Städten und 75 % auf dem Land lebten; noch vor 25 Jahren sich das Verhältnis bei 50 % : 50 % eingepegelt hatte, lebten 2015 bereits 75 % in den Städten und 25 % auf dem Land.
– Da Belarus über keine eigenen Bodenschätze und kaum Grundstoffe verfügt, bezieht es diese zur Weiterverarbeitung aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Verträge bestehen weitestgehend fort. So kommt die Baumwolle bspw. aus Usbekistan. Diese wird in Belarus u.a. zu hervorragender Unterwäsche verarbeitet. 8 % aller Unterwäsche aus 100 % Baumwolle, die in den USA verkauft wird, stammt aus Belarus.
– Russland ist für BY ein phantastischer Absatzmarkt aller Produktionen.
– Die Bevölkerung von Belarus ist im Allgemeinen mit ihrem Leben zufrieden, da alles Notwendige vorhanden ist. Sie ist „minimal glücklich“, wie sich der „kleine“ Sergej ausdrückte.
Das Unternehmertum ist eher unzufrieden mit den Entscheidungen der Regierung, da es nur geringe Möglichkeiten zur Expansion gibt.
– Für Spareinlagen erhält man derzeit 6-8 % Zinsen. Kreditzinsen richten sich nach der Größe der Stadt. Je größer diese ist, umso höhere Zinsen werden für Kredite verlangt.
– Preise für Lebensmittel, Gas, Strom, Wasser sind so ziemlich im ganzen Land gleich. Geringe Abweichungen durch Feilschen sind eigentlich nur auf Märkten möglich.
– Beim Kauf von Wohneigentum in einer Kleinstadt zahlt man je verwendetes Material (Beton- oder Ziegelbau) ca. 200 bis 300 € pro m².
– Miete und Nebenkosten ohne Heizung betragen im Zeitraum 16.04. bis 14.10. für eine Wohnung mit durchschnittlich 50 m² ca. 25 €/m² je Monat. Vom 15.10. bis 15.04. kommen noch 10-11 €/m² für Heizung hinzu.
– Da nicht für alle Schüler gleichzeitig genügend Klassenzimmer zur Verfügung stehen, ist der tägliche Schulbeginn gestaffelt. Stichtag für die Einschulung ist der 01.09. eines Jahres. Wer bis dahin Geburtstag hat, wird mit 7 Jahren eingeschult. Die später Geborenen kommen erst mit 8 Jahren in die Schule.
Nach 9 Jahren Schulpflicht schließen sich 3,5 Jahre Berufsschule an. Allerdings besteht ab 7. Klasse die Möglichkeit, neben der Schule ein Berufsvorbereitungszentrum zu besuchen, welches unter der Verantwortung der Gewerkschaft steht, um sich in verschiedenen Berufen auszuprobieren.
Übrigens wird der Unterricht in den „normalen“ Schulen im Verhältnis 2 : 1 gelehrt, d.h. zwei Stunden in russischer Sprache stehen einer Stunde in weißrussischer gegenüber. Während inzwischen Englisch die erste Fremdsprache in den Schulen ist und Deutsch die zweite, war es früher umgekehrt.
Bis zur 5. Klasse wird in der Schule ein kostenloses Frühstück verabreicht und ebenfalls ein Mittagessen ist zu ca. je 1 € obligatorisch, bestehend aus Suppe, Hauptgericht und einem Getränk.
Ab 6. Klasse ist dieses freiwillig. In den Schulen existiert jeweils eine Cafeteria, in der die Schüler sich diverse Speisen, Getränke und Süßwaren käuflich erwerben können.
– Was Schwangere und Gebärende angeht: 3 Monate genießen diese Mutterschutz. Für 3 Jahre erhalten sie monatlich ca. 40 € Müttergeld vom Staat und ihr jeweiliger Arbeitgeber, also Betrieb, schießt noch einmal 50 bis 60 € dazu.
Ab 1 Jahr ist Krippe möglich. Zu zahlen ist nur das Essengeld für 5 Mahlzeiten pro Tag in Höhe von ca. 20 €/ Monat. Ebenfalls nur Essengeld ist in den Kindergärten zu zahlen für die 3- bis 7-jährigen für 4 Mahlzeiten pro Tag in Höhe ca. 25 €/ Monat.
– In Belarus existiert keine gesetzlich Krankenversicherung, aber die medizinische Grundversorgung, die Versorgung von bspw. Diabetikern, Herz- und Tumorpatienten u.a. Spezialkrankheiten sowie Operationen ist kostenlos. Allerdings sind Medikamente in den Apotheken käuflich zu erwerben. Es handelt sich nicht nur um Zuzahlung. Auch Erstattung ist nicht zu erwarten.
– Das Renteneintrittsalter hat sich ab 2017 verschoben. Während zuvor Männer mit 60 Jahren und Frauen ab 55 Jahren Rente bezogen (Altersrente), muss jetzt je Geburtsjahrgang ein halbes Jahr länger gearbeitet werden.
Mindestrente 265 Rubel bekommt man nach 25 Arbeitsjahren. Ab 30 Jahren kommen monatlich 7 Rubel hinzu. Noch einmal 10 Rubel zuzüglich steigert sich die Rente bei 35 Arbeitsjahren. 315 Rubel werden für 38 Jahre gezahlt.
Andere Regelungen gelten für Angehörige der Armee; z.Z. gibt es 17.000 Soldaten und 1.500 Offiziere.
Trotz der Fülle von Informationen, die für mich neu und aufschlussreich waren, wollte mich gerade die Müdigkeit übermannen, als Hagen uns mit der Kassierung für Zirkus und Ballett konfrontierte. Anschließend verinnerlichten wir den Text des Ständchens für den 60. Geburtstag vom „großen“ Sergej am folgenden Tag, den ich bis dato noch nicht persönlich kannte. Bei der lockeren Stimmung wurde auch ich wieder richtig munter.
Währenddessen hatte sich der Ausblick aus den Busfenstern merklich verändert. Endlos erscheinende gelb gewordene Birkenwälder und Moore hatten längst die bebauten Gebiete abgelöst.
Nach der ersten 20-minütigen Pause war dann Chorprobe. Es wurde viel gelacht. Vor allem über ein Huhn, welches ein Blatt von einem Gummibaum gefressen hatte.
Zum Mittagessen in Minsk wurden wir mit Krautsalat, Pilzsuppe, 2 dicken Kartoffelpuffern mit Hackfleischfüllung und viel saurer Sahne verwöhnt. Lecker!
Zur Abfahrt nach Chatyn stieß der „große“ Sergej zu uns. Von Minsk bis Chatyn sollten es 55 km sein.
Der „kleine“ Sergej und unser 2. Busfahrer, Valerij, waren nun nicht mehr bei uns. Das ging recht sang- und klanglos – ziemlich unbemerkt von uns allen – ohne Verabschiedung.
Die erste Amtshandlung von Sergej Galuso war die Erläuterung des Programms der nachfolgenden Tage.
Angekommen in Chatyn, einem großen Gedenkstättenkomplex für die Ermordung von 2.230.000 Menschen in Weißrussland während des 2. Weltkrieges, inbegriffen die Bevölkerung des Dorfes Chatyn unter gleichzeitiger Zerstörung und Verbrennung des ganzen Ortes am 22.03.1943, begannen wir mit der Besichtigung.
Gehört hatte ich von diesem Ort des Gedenkens bereits viele Jahre zuvor im Geschichtsunterricht der DDR. Schon damals hatte mich das Schicksal dieses Dorfes und seiner Bevölkerung sehr berührt. Erinnert wurde ich auch nach der Wende daran, als im Rahmen des Eurocamps der PDS gemeinschaftlich mit Vertretern der KSCM von Tschechien, Kreis Jicin, ebenfalls eine Gedenkstätten in Böhmen besucht wurde, die aus den gleichen Gründen bestand – ein Dorf und seine Menschen wurden dem Erdboden gleichgemacht. Sie ist allerdings nicht so gewaltig und es gehört ein winzig kleiner Friedhof dazu.
Hier in Weißrussland mussten 209 Städte und 9.200 Dörfer dran glauben – wurden völlig zerstört. 433 davon wurden zusammen mit seinen Menschen von den faschistischen Okkupanten von der Erde getilgt.
Mich überwältigte das gigantische Ausmaß des Geländes und die Art der Darstellung der verschiedenen Erinnerungsstätten. So gab es stellvertretend für die Lebenden eine riesige Statue eines ausgemergelten Überlebenden, der einen Ermordeten auf seinen Armen trug, zahlreiche Einzelgräber, Stelen von Begrenzungssteinen umgeben an Stelle der 186 niedergebrannten Häuser des Dorfes Chatyn einschließlich seiner Menschen, den Ausweis von Massengräbern, Mahnmale für die Toten der einzelnen Gebiete bzw. größeren Städte, monumentale Gedenkblöcke mit Symbolkraft, eine ewige Flamme und Stellen, die zur Niederlegung von Blumenschmuck einluden. Auch wir nutzten diese. Von den Orten und Gebieten habe ich nur einige heraus gegriffen. So mussten in Trostjenjez 206.500 Menschen ihr Leben lassen. In Gomel waren es 100.000, in Polozk 150.000 und in Brest 34.000. In gedrüc
kter Stimmung ging ich wieder zum Bus. Ich war nicht die Einzige, die danach recht still geworden war.
Video von der andachtsvollen Visite des belarussischen Gedenkmemorials Chatyn. Die nationale staatliche Gedenkstätte „Chatyn“ der Republik Belarus ist die zentrale Kriegsgedenkstätte Weißrusslands für alle Opfer der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg. (Wikipedia)
Auf der Weiterfahrt von Chatyn nach Lepel, einer Feriensiedlung mitten im Wald, informierte uns Sergej, dass eine vielen Teilnehmern bekannte Ljuba Baturo ihm am 26.10. nachmittags und am 27.10. vormittags bei der Organisation, Betreuung und Übersetzung in Witebsk helfen würde. Außerdem verlas er die Aufteilung der Teilnehmer auf die Gastfamilien am 28.10. nachmittags. Diejenigen, die keine bestimmten Wünsche geäußert hatten, sollten zu Familien des Gymnasiums Nr. 4, u.a. auch ich. Von Lepel nach Witebsk würden es 110 km sein.
Nachdem wir gegen 17:35 Uhr in Lepel ankamen, genauer gesagt in der Pension Lode, war nach Zimmerbezug für den Rest des Tages Freizeit angesagt.
Die s.g. Pension war eine aus Blockhäusern bestehende langgestreckte Ferienhaussiedlung, an einem schönen See gelegen, aber mitten im Wald, deren Balkons, Türen und Fenster mit herrlichen Schnitzereien versehen waren. Jedes Gebäude war ein Unikat. Die Gehsteige bestanden ebenfalls aus Holz. Außer dem steinernen Haupthaus mit Bar und Restaurant/Speisesaal gab es einen Sportplatz, einen Strand, einen Minizoo, eine Sauna, einen Billardraum, einen Grill- und Tischtennisplatz sowie einen Spielplatz.
Nach dem Abendessen, bestehend aus Pflaumensaft, Schnaps,Tee, Geflügelsalat mit Möhren-/Krautsalat, 2 Brotsorten und einem Auflauf (Grieß, Kartoffelbrei und geräucherte Fleischstückchen mit Käse überbacken) in einem kleinen Tontopf, war es draußen dunkel. Der Rückweg zu den einzelnen Unterkünften wirkte verwunschen. Mir drängte sich der Gedanke auf: Abenteuer im Zauberwald. Nun ja, ich bin eben eine „alte“ Märchentante.
Wir im Haus Nr. 1 beschäftigten uns noch mit der Zusammenstellung des Kofferinhalts für Sergej´s 60. Geburtstag am kommenden Tag. Außerdem ließen wir Annelie unsere mitgebrachten Freundschaftsgeschenke zu kommen, zur Aufteilung auf die einzelnen zukünftigen Begegnungen.
Damit endete für mich dieser schöne, aber auch anstrengende Tag.
Elfie Lutz